Als Hausgast geboren

Warum schreibe ich hier? 

Mich hat das Thema Gäste haben, Gast sein immer beschäftigt. Meine Mutter kam als Studentin nach einem vierjährigen Aufenthalt in England und Frankreich schwanger und ledig nach Deutschland zurück. 1961 ein Skandal in der bürgerlichen Familie.

Eine Tante nahm uns auf, nachdem mein Grossvater seine Tochter mit Studium, Schwangerschaft und Lebensplanung im Stich liess. Steck das Kind in ein Heim und mach dein Studium zuende. Dann hol es zu dir. Später korrigierte er sein Weltbild. Mein Urgrossvater verspürte überlieferterweise bei der Nachricht, seine Enkelin bekomme ein Kind auf eigene Rechnung mehr Wärme und subversive Freude als sein eigener Sohn. Soviel zu einer Zeit, in der Kinder einen männlichen gesetzlichen Vormund brauchten und Frauen ohne Einwilligung des Ehemanns nicht arbeiten durften.

Das Haus von Tante und Onkel war ein fröhlicher, heller und lebendiger Ort. Die beiden hatten sich in den 1950er Jahren ein lichtdurchflutetes Haus gebaut und führten dor ihre Arztpraxis im kinderlosen Haushalt.  Es gab nicht nur Platz für uns, sondern auch Menschen mit Zeit. Meine Mutter konnte sich eine Stelle suchen und berufstätig sein, ohne die Sorge, dass jeden Moment die Kita anruft und bittet, das kranke Kind abzuholen, denn das Kind war bereits beim Arzt und es gab immer jemanden, der es umsorgte. Ständig kamen Patienten, Angestellte, Gäste und Familie zusammen. Besuchen und besucht werden war meine Kindheit. 

Als Studentin wurde ich durch eine Familienfreundin zum Unterrichten in eine Schweizer Privatschule eingeladen. In diesem kuriosen Institut wurde jungen Frauen aus der globalen Oberschicht der letzte Schliff für die anspruchsvolle Ehe verliehen. Beim Unterrichten lernte ich nebenbei alles, was die Schülerinnen auch lernten: Savoir Vivre zum Beispiel, nämlich wie man im 50er-Jahre-Style als Elitegattin den Laden so schmeisst, dass es weder nach Laden noch Schmeissen ausssieht. Der Hippie in mir verdrehte die Augen, aber ich erkannte den Sinn.

Ein gutes Jahr später ging ich als Sprachlehrerin nach England, arbeitete im Londoner Goethe Institut und hatte schließlich als Autorin den vergnüglichen Auftrag, ein Buch über die Engländer zu schreiben ('Reisegast in England', ein Kulturführer). Es folgte das noch grössere Vergnügen, für den Dumont Verlag einen Reiseführer über Südengland zu schreiben. Landhäuser, Pubs und Bed&Breakfasts wurden während der Recherche zu meinem Arbeitsplatz. Gast sein und berichten: gibt es was besseres? In dieser Zeit entstanden südenglische Sehnsuchtsorte, die bis heute in mir lebendig sind.

2004 begleitete ich meinen Mann Kevin "für 2-3 Jahre" nach Hong Kong. Es sollten 12 Jahre daraus werden. Unsere Kinder wuchsen dort auf, wir wurden waschechte Expatriates mit Privilegien, Country Club, Internationalen Schulen und Personal. Und mit langen Flügen in Kevins Heimat, nach USA, um Weihnachten bei Kevins Eltern zu verbringen. Neues Territorium. 

Alles, was ich aus Europa kannte, wurde auf den Kopf gestellt. Der Mangel an Privatsphäre, die entfesselten Ansprüche der Expat-Communities, die neue Rolle als Mutter: Ich hatte meinen ohnehin wackeligen Kompass verloren und war ständig mit Kurskorrektur beschäftigt. Die Umgangsformen Dauerprivilegierter kannte ich aus London, aber in Hong Kong fehlte das Korrektiv einer europäisch geprägten Mittelschicht, nicht zuletzt auch prekär lebender Menschen aus meinem eigenen Kulturkreis. Von Chinesen lernten wir unterdessen, dass alles möglich ist und eigene Befindlichkeiten, sollten sie existieren, nicht zählen - egal wo man auf der steilen sozialen Hackordnung verortet ist. Später lernte ich, dass es auch prekär lebende Expats gibt und meine Tätigkeit in Hong Kong führte zu einer Initiative, in der wir uns im Netzwerk um jene Expats kümmerten, deren Leben durch einen Schicksalsschlag in Schieflage geraten war. Ich entdeckte diesen  Blindspot, weil in meinem Freundeskreis mehrere Frauen selbst in Not geraten waren. Der Glamour verblasst schnell, wenn das fragile Lebenskonstrukt expatriatism nicht wie geplant funktioniert.

2016 zogen wir nach Berlin. Wir landeten am Tag des Brexit zunächst in meiner alten Heimat London. Einige Monate später - wir hatten uns gerade in Berlin eingerichtet - wurde Trump zum US-Präsidenten gewählt. Die Proteste in Hong Kong spitzten sich derweil dramatisch zu und die SAR (Special Administrative Region) veränderte sich für alle. Wir hatten das Gefühl, das alle Welten, in denen wir befristet zuhause waren, nicht mehr existierten. 

Alle Welten? Nein. In einem kleinen Ort im Chiemgau steht seit 2007 ein Haus. Das Holzhaus ist für uns und unsere Gäste geplant und gebaut. Hier durften die Kinder der Hongkonger Sommerhitze entfliehen für ein paar Wochen im Jahr Kühe, Schafe und Pferde kennenlernen, Freunde einladen, Pause machen. Mittlerweile ist es unser zweites Zuhause.

Die Perspektiven, die ich in Europa, Asien und USA gewinnen durfte, bereichern bis heute meinen Blick auf das Thema Freundschaften und Gastfreunde -  diejenigen, die als Gäste zu uns kommen oder die uns als Gäste aufnehmen. Für alles, was ich darüber lernen durfte,  bin ich zutiefst dankbar.

Ich möchte etwas davon weitergeben, denn wir leben in einer Welt, in der Haushalte vereinzeln, astronomische Wohnungs- und Hauspreise den Raum für Hausgäste nur bedingt zulassen. Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass Gäste einfach mal ein paar Tage, geschweige denn Wochen, bei uns zuhause sind. Neubauten sind so gewinnmaximierend geplant,  dass es nichtmal einen Putzschrank gibt. AirBnB, Homeexchange und Couchsurfing punkten gleichzeitig als Alternativen zu kommerzieller Beherbergung. Gäste haben, Gast sein: hier entstehen neue Ideen, neue Modelle, frische Konzepte. Wir stehen zwischen old school und new world, experimentieren und teilen, was relevant ist.

Ich freue mich darauf, mit euch in dieses Thema einzusteigen!

Caroline Roy, 2024

 

July
2024

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